Hartnäckig hält sich die Behauptung, dass Österreich den ehemaligen kasachischen Botschafter selbst strafrechtlich verfolgen oder an seine Heimat übergeben müsse. Doch diese Aussage ist nicht haltbar.
Wien. Der „Fall" des ehemaligen kasachischen Botschafters in Österreich, Rakhat Alijew, beschäftigt seit drei Jahren die Öffentlichkeit und mutierte auch zu einem beliebten Spielfeld für Juristen, wobei manchmal die Grenze zur Beliebigkeit überschritten wird. Dies gilt vor allem für die Diskussion der international-rechtlichen Dimension dieses Falles. Daher erscheint es angebracht, auf einige völkerrechtliche Probleme aus der Sicht eines Außenstehenden näher einzugehen. Da der konkrete, juristisch relevante Sachverhalt der Öffentlichkeit nicht bekannt ist, muss sich eine rechtliche Beurteilung an relativ abstrakten Normen und wenigen klaren Fakten orientieren. Dies hat aber auch den nicht zu unterschätzenden Vorteil der Distanz, zumal der Sachverhalt zwischen den Involvierten heftig umstritten sein dürfte.
In der öffentlichen Diskussion wurde argumentiert, dass Österreich aufgrund des Prinzips „Auslieferung oder strafrechtliche Verfolgung" (aut dedere aut iudicare) völkerrechtlich verpflichtet sei, einen mutmaßlichen Täter auszuliefern oder diesen allenfalls selbst strafrechtlich zu verfolgen. Diese Behauptung schießt klar über das Ziel hinaus. Vor allem gibt es völkerrechtlich keine allgemeine Auslieferungsverpflichtung. Ein Staat ist nur dann verpflichtet, einem Ersuchen um Auslieferung nachzukommen, wenn diese Pflicht durch völkerrechtlichen Vertrag eingegangen wurde. Gibt es also keinen bilateralen oder multilateralen Vertrag, liegt es im freien Ermessen des ersuchten Staates, ob er dem Ersuchen nachkommt oder nicht. Ähnlich verhält es sich mit dem Grundsatz des aut dedere aut iudicare, der zwar völkerrechtlich anerkannt, aber kein eigenständiges Rechtsinstitut ist. Vielmehr ist er regelmäßig Bestandteil völkerrechtlicher Verträge, die bestimmte Verbrechen völkerrechtlich unter Strafe stellen, wie etwa die vier Genfer Abkommen, Verträge zur Bestrafung bestimmter terroristischer Handlungen oder die Konvention gegen Folter. Das bedeutet, dass der Grundsatz aut dedere aut iudicare nur dann relevant und anwendbar ist, wenn einer dieser völkerrechtlichen Verträge zur Anwendung kommt. Aus den der Öffentlichkeit vorliegenden Fakten ist nicht ersichtlich, dass es überhaupt eine vertragliche Verpflichtung Österreichs zu einer Auslieferung gibt. Weder gibt es ein anwendbares Auslieferungsabkommen mit Kasachstan, noch wird um Auslieferung wegen eines Verbrechens ersucht, das nach den oben beispielhaft genannten „Materienverträgen" zur strafrechtlichen Verfolgung des mutmaßlichen Täters durch den Gewahrsamsstaat verpflichtet.
Keine Verankerung im Gewohnheitsrecht
Zwar wird von manchen argumentiert, dass der Grundsatz des aut dedere aut iudicare auch völkergewohnheitsrechtlich verankert sei, allerdings wurde bislang keine einheitliche Staatenpraxis nachgewiesen, ohne die Gewohnheitsrecht nicht entstehen kann. Die Vertreter der gewohnheitsrechtlichen Geltung dieses Grundsatzes stützen sich fast ausschließlich auf Meinungen in der Literatur sowie auf nichtverbindliche internationale Dokumente, in welchen der Grundsatz rechtspolitisch postuliert wird. Dies mag zwar den Wunsch, vielleicht sogar die Notwendigkeit der Verankerung dieses Grundsatzes im Gewohnheitsrecht ausdrücken, allein dies reicht eben nicht aus. In diesem Zusammenhang sei auf die Aussage des bekannten österreichischen Völkerrechtlers (und gegenwärtigen Richters am Internationalen Gerichtshof) Bruno Simma verwiesen, der in einer vergleichenden Studie meinte, dass die oftmalige Berufung auf das Völkergewohnheitsrecht in der Literatur Ähnlichkeiten mit einer Blume aufweise, die zwar im Treibhaus wunderschöne Blüten treiben mag, aber im viel raueren Klima der Staatenpraxis wohl nicht überleben würde.
Aus völkerrechtlicher Sicht sollte schließlich auf die oft erwähnten diplomatischen Zusagen eingegangen werden, die von einem Staat geleistet werden sollen, bei dem es fraglich ist, ob sein Justizsystem grundlegende Rechte des Beschuldigten gewährleistet. So wird von manchen argumentiert, dass eine „internationale Praxis" den um Auslieferung ersuchten Staat verpflichte, Zusicherungen vom ersuchenden Staat einzuholen, dass der Beschuldigte nicht gefoltert und ein rechtsstaatliches faires Verfahren erhalten wird. Auch diesbezüglich lässt sich eine einheitliche und weitverbreitete Praxis nicht nachweisen. Generell ist der Rechtscharakter, vor allem die völkerrechtliche Verbindlichkeit, solcher Zusicherungen zweifelhaft. Viel wird dabei von den Umständen des Einzelfalles abhängen (z.B. wer die Erklärung abgibt und ob es einen klaren Verpflichtungswillen gibt). Falls es sich um reine unverbindliche diplomatische Zusagen handelt, ist es zweifelhaft, warum der ersuchende Staat sich an solche halten soll, wenn er sich selbst an völkerrechtlich verbindliche Verpflichtungen wie das Folterverbot oder das Recht auf ein faires Verfahren nicht hält.
Aber auch andere Überlegungen sind der Idee der diplomatischen Garantien nicht förderlich. So hat der um Auslieferung ersuchte Staat keine Möglichkeit, die Einhaltung der Zusagen zu überprüfen, geschweige denn sie rechtlich durchzusetzen. Noch weniger trifft dies wohl auf den Beschuldigten zu. Außerdem ist unklar, ob die Justizbehörden an diese Zusicherungen, die üblicherweise von der Exekutive abgegeben werden, gebunden sind und sich tatsächlich daran halten. Die Einhaltung diplomatischer Zusicherungen könnte allenfalls dann überprüft werden, wenn der ersuchende Staat Partei der EMRK ist. All diese Überlegungen lassen solche diplomatischen Zusicherungen in einem äußerst zweifelhaften Licht erscheinen.
Dr. Stephan Wittich ist Ass.-Prof. am Institut für Internationales Recht an der Uni Wien.
Die Presse